7 Juni 2019

Was bleibt

 

Mehr als zweitausend Kilometer  in sechs Tagen mit dem Motorrad durch Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen; den Harz, das Vogtland, das Erzgebirge und die Sächsische Schweiz; nur über Landstraßen und Feldwege, selten Bundesstraßen, nie die Autobahn. Was bleibt nach dieser Tour durch ein Land, das nach Meinung derer, die es nicht kennen, der dunkelste Teil Deutschlands ist; voll von Rechten, von Nazis und AfD-Wählern?

Um es vorwegzunehmen – wir haben sie nicht getroffen, sondern nur Menschen. Auf dem Fichtelberg, in 1215 Metern Höhe, brachte Lena es nach einem langen Rundblick mit sechs Worten auf den Punkt: „Mein Gott, ist dieses Land schön.“

So bleibt am Ende dieser Tour als erstes Staunen:
– über den Mann an der Kreuzung in Oelsnitz. Er schaute uns lächelnd ein paar Minuten bei unseren erfolglosen Versuchen zu, das Navi zu überzeugen, uns zu sagen, in welche Richtung wir fahren müssen. Dann wies er uns den Weg, obwohl wir ihn nicht gefragt hatten;

– über die Putzfrau in der Pension in Wernigerode, die das Trinkgeld nicht wollte und sich, als ich es ihr in die Schürzentasche steckte, mit einem altertümlichen Knicks und einem Lächeln dafür bedankte;

– über den Wirt des Gästehauses in Schöna, der uns ohne Aufpreis und mit einem breiten Grinsen ein Zimmer mit Terrasse und der besten Aussicht auf das Elbsandsteingebirge gab. Der außerdem vergaß, unser Essen und die Getränke auf die Rechnung zu setzen und als wir es ihm sagten, mit einem halb nach oben und halb nach wahrscheinlich Berlin gerichteten Zeigefinger erwiderte: „Nehmen Sie es als Geschenk zu Pfingsten. Es treibt mich nicht in den Ruin. Das machen andere. Gute Heimreise.“;

– über das junge Mädchen am Rand des Gigaswing an der Rappbodetalsperre und ihr Lächeln, mit dem sie den alten Mann 85 Meter senkrecht in die Tiefe stürzen ließ. 3,5 Sekunden freier Fall und den Schrei, den er ausstieß, als die Seile griffen und aus dem Sturz ein sanftes Schwingen wurde. Nachdem sie ihn wieder hochgezogen hatte, und das Geschirr entfernt hatte, sah sie ihn einen kurzen Moment an, dann nahm sie ihn in die Arme, einfach so. „Sie hatten so viel Glück in den Augen“, sagte sie, als er sie fragte warum. „Ich wollte etwas davon abhaben.“

Als Zweites bleibt die Liebe zu diesem Land, in dem ich geboren wurde. Unsere Mütter und Väter und deren Mütter und Väter haben es aufgebaut, mit Blut, Schweiß und Tränen. Es hat tiefe Wunden davongetragen, die Narben sind geblieben und immer neue kommen hinzu. Die, die sie ihm schlagen, wissen weder etwas von seiner Schönheit noch den Menschen, die in ihm leben. Sie haben es nie kennenlernen wollen, denn sonst könnten sie es niemals tun. Das hört sich nach Vaterlandsliebe an? Einen Begriff, der mit aller Macht heute negativ belegt wird und jeden, der ihn verwendet, zum Nazi stempelt? Sei es drum, ich kann damit leben. Genau wie es dieses Land kann, denn es ist mehr als Grund und Boden; mehr als Häuser, Dörfer und Städte. Dieses Land sind Menschen mit einer Idee von Deutschland im Kopf, die ein wenig anders aussieht, als es tatsächlich ist. Es ist ein Traum  und er ist einfach nicht auszurotten. Das Land kann man zerstören, zerstückeln, ruinieren; die Menschen kann man fortjagen, stigmatisieren als Ossi und Ewiggestrige, doch die Idee „Deutschland“ in ihren Köpfen wird auch dann noch leben, wenn jeden Tag bezahlte Demonstrationen mit „Deutschland verrecke“ – Plakaten und der versammelten Politprominenz dahinter durch die Straßen ziehen. 

So bleibt als drittes Gefühl in mir nur Mitleid für die, die von diesem Land nur den Kreißsaal kennen, in dem sie geboren wurden; den Hörsaal, in dem sie versagt haben und den Plenarsaal, in dem sie alles tun, um den Menschen dieses Landes diese Idee mit „Europa ist die Antwort“ auszutreiben. Sie tun mir leid, denn sie werden diese beiden Gefühle niemals kennenlernen: dieses Staunen und die Liebe.

Aber wir. Wir tragen sie in uns und davon handelt dieses Blog.