20 Juni 2019

Danke

In jungen Jahren ist Lebenszeit etwas, über das wir uns kaum Gedanken machen. Höchstens, wenn wir wünschen, dass sie schneller vergehen möge, damit wir endlich als erwachsen angesehen werden und unsere Ziele und Träume erfüllen können. Unser Konto ist gefüllt, ein Ende nicht in Sicht und scheinbar ist niemand da, der uns Grenzen setzt. Wir verschwenden keinen Gedanken daran, dass die Anzahl der Schritte, die wir in unserem Leben tun können, endlich ist, und dass wir mit jedem verschwendeten Gedanken auch Zeit von unserer Lebensuhr nehmen.

Statt an uns selbst zu denken, verplempern wir unsere kostbare Zeit an das Ärgern über den Chef, den Zorn über Kollegen, Freunde, Bekannte; an Ängste vor dem Morgen und so rinnt uns unser Leben wie Ostseesand durch die Finger. Jeder Moment in unserem Leben, den wir im Guten an andere verschenken oder im Bösen an andere verschwenden, ist unwiederbringlich und nicht nur für uns. Denn wenn wir unsere Zeit mit den Phantomen der Menschen und Dinge verbringen, die wir nicht mögen, die wir hassen oder fürchten, stehlen wir diese Zeit den Menschen, die wir lieben. Den Menschen, die uns nahe sind und die für uns da sind, wenn wir sie brauchen. Sie sind es, die unser Leben schön machen und so sollte unsere Lebenszeit ihnen und uns gelten. Noch sind wir es, die unsere Gedanken kontrollieren und noch sind auch ausschließlich wir es, die darüber bestimmen, wem wir davon abgeben.

Ihr habt gestern an mich gedacht, habt mir von Eurer Lebenszeit etwas abgegeben und vielleicht musste ich tatsächlich erst sechzig werden, um zu verstehen, wie groß Euer Geschenk ist.
Ich danke Euch dafür aus tiefstem Herzen.

Rainer

18 Juni 2019

Kapitel 1

Teil I – Mondfischer

“Die Wahrheit ist nicht das, was ihr wollt, dass sie ist. Sie ist das, was sie ist und ihr müsst euch ihrer Macht beugen oder eine Lüge leben.”

Miyamoto Musashi

Kapitel 1

Gott hat die Menschen geschaffen, ihn anzubeten. Obrigkeit, Kirche und Krieg, sie immer daran zu erinnern und die Hölle, auf dass die Seelen jener, die den Kopf nicht beugen wollen, in ihrem Feuer ewige Pein erleiden. So macht man es die Leute glauben, und nichts davon ist wahr. Die Hölle ist nicht heiß, sondern kalt; so sehr, dass eine arme Seele, die sich dahin verirrt, nicht verbrannt, sondern tiefgefroren wird. Dieses Reich der Verdammnis existierte lange, bevor es auf der Erde jemanden gab, der genug Intelligenz besaß, an einen Herrn über ihm zu glauben.
    Es ist die Antarktis und Robert Falcon Scott schrieb über sie in sein Tagebuch: „Großer Gott! dies ist ein schrecklicher Ort.“
    Sechs Monate im Jahr ist es hier so finster wie im Herzen eines Kredithais, Stürme wie nirgendwo sonst rasen über ihren kilometerhohen Eispanzer und die Temperaturen fallen in Bereiche, in denen ein Alkoholthermometer einfach nur zerplatzt. Schützt du dich vor der Kälte, schickt sie einen Blizzard; gehst du vor dem Sturm in Deckung, reißt sie das Eis unter deinen Füßen auf; stehst du auf festem Grund, rollt sie häusergroße Felsen heran und hast du das alles überlebt, spielt der Kompass verrückt und du findest den Weg zurück nicht mehr. Ganz so, als würde ein tückischer Verstand hinter all dem stecken. Vielleicht ist es auch so.
    Die Antarktis ist nicht so leblos, wie sie scheint. Sie verzeiht keine Fehler und zu glauben, sie besiegt zu haben, ist einer. Scott war auf dem Rückmarsch vom Südpol, hatte schon das Basislager vor Augen, als sie ein letztes Mal zuschlug und einen Schneesturm schickte. Er erfror, nur ganze achtzehn Kilometer von der Rettung entfernt.
    Keine Nacht lässt sie mich schlafen, ich höre ihren Ruf wie Odysseus den Gesang der Sirenen. Sie lauert auf eine neue Chance, mich umzubringen, und es ist Zeit, sie ihr zu geben. Von Angesicht zu Angesicht.

Kälte rann mir den Rücken herab und ich schlug das Tagebuch von Thore Wejndahl zu. Die Antarktis kannte ich nicht, dafür aber die Menschen, mit denen er nicht zurechtgekommen war: zivilisatorische Weicheier, hilflos, wenn sie der Natur ohne Technik gegenüberstanden, kommunikations- und gefühlsunfähig ohne ihre Smartphones mit Rechtschreibprüfung und Smileys und krank, wenn sie bei einer Überlandfahrt einen Atemzug ohne Pollenfilter machen mussten. Was Wunder, dass sie, wenn sie einmal auf die Urkräfte der Natur trafen, dahinter einen heimtückischen Verstand sahen.
    Ob es überall so war? Rachmantikow hatte die Existenz paralleler Universen bewiesen, das Multiversum war keine bloße Theorie mehr. Möglich, dass auf einer der unendlich vielen Erden die Antarktis ein blühender Garten Eden war und die Menschen gelernt hatten, im Einklang mit der Natur zu leben, statt sie zu zerstören wie bei uns. Oder Schwerin keine Millionenstadt, sondern nur ein Provinznest. Was allerdings ziemlich schwer vorstellbar war. Meine Heimatstadt war zwar nicht das Zentrum des Universums, aber überall wuchsen neue Häuser empor wie Birkenschösslinge zwischen verlassenen Bahngleisen.
    Eine Tür fiel ins Schloss. Ich stand auf, reckte mich und ging durch das Halbdunkel im Saal zum Automaten. Es war kurz vor zwei in der Nacht. Höchste Zeit für mich, die Klinik zu verlassen.
Der Becher fiel in die Halterung, leise zischte das kochende Wasser in der Maschine. Der Ausgabearm fuhr heraus, ich nahm meinen Feierabendkaffee und stellte mich ans Fenster. Die Lichter der Stadt spiegelten sich auf der Oberfläche des nachtdunklen Schweriner Sees, ab und zu blitzte ein Lichtreflex darüber hin und alles schien wie immer.
    Diese Welt da draußen kannte ich. Menschen, die liebten und hassten; manchmal auch zornig wurden oder dumme Dinge taten; die gesund oder krank waren; arm oder reich; jung oder alt. Dass es noch eine andere gab, in der der Unterschied zwischen dem Fällen eines Baumes und dem Töten eines Widersachers nur in der Wahl des richtigen Werkzeugs und der Höhe der Summe, die dafür bezahlten werden musste bestand, hatte ich nicht wahrhaben wollen.
    „Werden sie Svensson besuchen?“, hatte Borg mich heute Nachmittag gefragt.
    „Wozu?“, hatte ich geantwortet. „Ein alter Arzt, der einen halbtoten Mann besucht, der den ganzen Tag nichts anderes tut, als seine Opfer mit den Köpfen von Ungeheuern zu zeichnen. Das passt nicht. Einer Frau liegt so etwas mehr. Er hat auch Engel gemalt. Dann soll ihn auch einer besuchen.“
    Borg hatte nur genickt, ohne eine Miene zu verziehen. „Morgen Nachmittag kann sie zu ihm. Ich werde auf sie warten.“
    Natürlich würde er das. Er würde dem Engel die Flügel ausreißen und nur Svensson hatte einmal die Macht besessen, es zu verhindern. Doch der hatte eine Kugel im Rückgrat und jeder seiner wahrscheinlich letzten Atemzüge wurde überwacht. Der Löwe gefällt, in Ketten gelegt und Joanna würde offenen Auges um seinetwillen in die gestellte Falle laufen. Ihr Wissen preiszugeben oder zu sterben waren die beiden einzigen Wege, die Borg ihr lassen würde und ich konnte nichts weiter tun als zusehen.
     Ich riss mich aus meinen Gedanken, hinterließ der Nachtschwester ein paar Zeilen und machte mich auf den Weg zu meinem Wagen. Wolken zogen vor den Mond, als ich aus der Tür trat und die Leuchtstreifen im Gehweg erhöhten sanft ihre Lichtintensität. Der schiefe Bergahorn, unter dem ich immer meinen Wagen parkte, blühte und seine Pollen machten aus der lauen Augustnacht ein Sinnesfeuerwerk. Jemand hatte vor langer Zeit ein Herz und einen Pfeil in seine Borke gekratzt, im Laufe der Jahre war die Rinde vernarbt, das Herz aufgequollen und dort, wo es der Pfeil getroffen hatte, in zwei Teile zerbrochen. Tief atmete ich den Blütenduft ein und fragte ich mich, auf welchen krummen Pfaden meine Gedanken heute Nacht unterwegs waren.
    Vor über vierzig Jahren war ich Svensson das erste Mal begegnet. Damals hieß er noch Christian Oldenburg und war ein Steppke von gerade mal elf Jahren gewesen. Den Blick, den er mir zuwarf, als ich ihm das Blut von seiner aufgesprungenen Lippe tupfte, habe ich nie vergessen.
    Ich war der Ringarzt bei seinem ersten Boxkampf gewesen. Er hatte nicht kämpfen wollen, doch aus Vätermeinungen erwachsen Konsequenzen für deren Kinder, und deshalb hatte Christian beim Schweriner Sportclub „Traktor“ das Boxen lernen müssen. Obwohl sein Gegner einen Kopf größer und mit einer längeren Reichweite ausgestattet war, hielt sich Christian gut; brachte immer rechtzeitig genug die Deckung hoch und kassierte keine ernsthaften Treffer. Doch wenn er selbst hätte schlagen und treffen können, tat er nur so. Es waren Alibischläge, präzise gezielt, aber nicht bis zur letzten Konsequenz ausgeführt.
    In der Pause ließ der Trainer eine Standpauke auf ihn niederprasseln und in der zweiten Runde deckte Christian seinen Gegner so mit Schlägen ein, dass der nur noch reagieren konnte; nagelte ihn in den Ecken fest, und wenn er ihn wieder herausließ, dann nur, um ihn weiter durch den Ring zu treiben. Kurz vor Ende der Runde blieb Christian stehen und warf seinem Vater neben dem Ring einen langen Blick zu. Sein Gegner nutzte die vermeintliche Unaufmerksamkeit und schlug eine fürchterliche rechte Gerade. Ich bin mir sicher, dass Christian noch hätte reagieren können, wenn er gewollt hätte, doch statt sich zu schützen oder wegzudrehen, nahm er die Deckung herunter.
    Alles, was danach kam, hat mit diesem Niederschlag in der nach Schweiß stinkenden Boxhalle seinen Anfang genommen, in der der Elfjährige den Kampf verlor, um die Schlacht gegen seinen Vater zu gewinnen. Es war meine erste Begegnung mit Svensson gewesen und ich habe sie nie vergessen können.
    Fünfzehn Jahre danach begegnete er Joanna und das Schicksal goss ein paar wenige Stunden Glück über ihm aus, bevor es ihn in die Hölle stieß. Dass sie einen Ausgang hat und Joanna dort auf ihn wartet, konnte er damals nicht einmal ahnen. Kein Mensch hätte das gekonnt.
    Die Puzzlesteine seines Lebens habe ich selbst zusammengetragen und wo noch weiße Stellen im Bild waren, hat sie meine Phantasie ausgefüllt. Es ist nicht wichtig, ob es so genau stimmt. Wichtig ist nur, dass irgendwo ganz tief in dem Krüppel Svensson noch der trotzige kleine Junge von damals lebt, denn sonst sind wir alle verloren. Er würde morgen den unmöglichen dritten Weg finden zwischen Tod und Verrat. Kinder können das.
    Weil sie noch an Wunder glauben.

7 Juni 2019

Was bleibt

 

Mehr als zweitausend Kilometer  in sechs Tagen mit dem Motorrad durch Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen; den Harz, das Vogtland, das Erzgebirge und die Sächsische Schweiz; nur über Landstraßen und Feldwege, selten Bundesstraßen, nie die Autobahn. Was bleibt nach dieser Tour durch ein Land, das nach Meinung derer, die es nicht kennen, der dunkelste Teil Deutschlands ist; voll von Rechten, von Nazis und AfD-Wählern?

Um es vorwegzunehmen – wir haben sie nicht getroffen, sondern nur Menschen. Auf dem Fichtelberg, in 1215 Metern Höhe, brachte Lena es nach einem langen Rundblick mit sechs Worten auf den Punkt: „Mein Gott, ist dieses Land schön.“

So bleibt am Ende dieser Tour als erstes Staunen:
– über den Mann an der Kreuzung in Oelsnitz. Er schaute uns lächelnd ein paar Minuten bei unseren erfolglosen Versuchen zu, das Navi zu überzeugen, uns zu sagen, in welche Richtung wir fahren müssen. Dann wies er uns den Weg, obwohl wir ihn nicht gefragt hatten;

– über die Putzfrau in der Pension in Wernigerode, die das Trinkgeld nicht wollte und sich, als ich es ihr in die Schürzentasche steckte, mit einem altertümlichen Knicks und einem Lächeln dafür bedankte;

– über den Wirt des Gästehauses in Schöna, der uns ohne Aufpreis und mit einem breiten Grinsen ein Zimmer mit Terrasse und der besten Aussicht auf das Elbsandsteingebirge gab. Der außerdem vergaß, unser Essen und die Getränke auf die Rechnung zu setzen und als wir es ihm sagten, mit einem halb nach oben und halb nach wahrscheinlich Berlin gerichteten Zeigefinger erwiderte: „Nehmen Sie es als Geschenk zu Pfingsten. Es treibt mich nicht in den Ruin. Das machen andere. Gute Heimreise.“;

– über das junge Mädchen am Rand des Gigaswing an der Rappbodetalsperre und ihr Lächeln, mit dem sie den alten Mann 85 Meter senkrecht in die Tiefe stürzen ließ. 3,5 Sekunden freier Fall und den Schrei, den er ausstieß, als die Seile griffen und aus dem Sturz ein sanftes Schwingen wurde. Nachdem sie ihn wieder hochgezogen hatte, und das Geschirr entfernt hatte, sah sie ihn einen kurzen Moment an, dann nahm sie ihn in die Arme, einfach so. „Sie hatten so viel Glück in den Augen“, sagte sie, als er sie fragte warum. „Ich wollte etwas davon abhaben.“

Als Zweites bleibt die Liebe zu diesem Land, in dem ich geboren wurde. Unsere Mütter und Väter und deren Mütter und Väter haben es aufgebaut, mit Blut, Schweiß und Tränen. Es hat tiefe Wunden davongetragen, die Narben sind geblieben und immer neue kommen hinzu. Die, die sie ihm schlagen, wissen weder etwas von seiner Schönheit noch den Menschen, die in ihm leben. Sie haben es nie kennenlernen wollen, denn sonst könnten sie es niemals tun. Das hört sich nach Vaterlandsliebe an? Einen Begriff, der mit aller Macht heute negativ belegt wird und jeden, der ihn verwendet, zum Nazi stempelt? Sei es drum, ich kann damit leben. Genau wie es dieses Land kann, denn es ist mehr als Grund und Boden; mehr als Häuser, Dörfer und Städte. Dieses Land sind Menschen mit einer Idee von Deutschland im Kopf, die ein wenig anders aussieht, als es tatsächlich ist. Es ist ein Traum  und er ist einfach nicht auszurotten. Das Land kann man zerstören, zerstückeln, ruinieren; die Menschen kann man fortjagen, stigmatisieren als Ossi und Ewiggestrige, doch die Idee „Deutschland“ in ihren Köpfen wird auch dann noch leben, wenn jeden Tag bezahlte Demonstrationen mit „Deutschland verrecke“ – Plakaten und der versammelten Politprominenz dahinter durch die Straßen ziehen. 

So bleibt als drittes Gefühl in mir nur Mitleid für die, die von diesem Land nur den Kreißsaal kennen, in dem sie geboren wurden; den Hörsaal, in dem sie versagt haben und den Plenarsaal, in dem sie alles tun, um den Menschen dieses Landes diese Idee mit „Europa ist die Antwort“ auszutreiben. Sie tun mir leid, denn sie werden diese beiden Gefühle niemals kennenlernen: dieses Staunen und die Liebe.

Aber wir. Wir tragen sie in uns und davon handelt dieses Blog.